Motive

Halits Tod

Halit Yozgat war das neunte und letzte bekannte Opfer der rassistischen Mordserie des NSU. Der Mord an Halit gehört auch zu der rassistischen Gewalt in Deutschland, vor allem seit Anwerbung von sogenannten ‚Gastarbeiter*innen‘ in der BRD und von ‚Vertragsarbeiter*innen‘ in der DDR. Zwei Tage vor dem Mord an Halit Yozgat ermordete der NSU Mehmet Kubaşık in Dortmund. Halit Yozgat wurde 1985 in Kassel in der Straße geboren, in der er später mit 21 Jahren ermordet wurde. Seit Herbst 2004 betrieb er das Internetcafé in der Holländischen Straße selbstständig. Zwei Monate vor seinem Tod hatte er sich in der Abendschule angemeldet, um sein Abitur nachzuholen. Bis heute weigert sich die Stadt Kassel, die Forderung seiner Eltern İsmail und Ayşe Yozgat zu erfüllen, die Holländische Straße, in der Halit geboren und ermordet wurde, in der er gearbeitet hatte, in Halitstraße umzubenennen.

Als der NSU Halit ermordete, befanden sich mehrere Personen in dem Internetcafé. Einer davon war Andreas Temme. Er verließ nach dem Mord das Café, meldete sich nicht bei der Polizei und – als er aufgrund einer weiteren Zeugenaussage von der Polizei identifiziert worden war – log und log und log. Vor der Polizei, vor dem Gericht in München, das ihn damit durchkommen ließ, vor den Untersuchungsausschüssen. Andreas Temme war Mitarbeiter des LfV Hessen und zuständig für eine Reihe V-Personen, auch im Bereich „Rechtsextremismus“. Die Polizei konnte ihn als die Person in Halit Yozgats Internetcafé identifizieren, die sich nicht bei der Polizei gemeldet hatte, indem sie den von ihm unter falschen Namen und echter Handynummer genutzten Account auf einer Datingseite zuordnen konnte. Temme griff regelmäßig von Halits Laden aus auf diesen Account zu. İsmail Yozgat gab an, Temme sei beinahe täglich im Internetcafé gewesen und etwa zwei Stunden geblieben, was für eine regelmäßige auch dienstliche Nutzung der Computer spricht. İsmail Yozgat bezeichnete die Viertelstunde, die Temme sich während des Mordes im Café aufgehalten hatte, als ungewöhnlich kurz.

Am 21. April begannen die Behörden ein Ermittlungsverfahren gegen Andreas Temme und durchsuchten seine Wohnung und die seiner Eltern. Bei den Durchsuchungen wurden illegal besessene Munition und selbst angefertigte Abschriften von Texten des Nationalsozialismus gefunden.[1] Seine Behauptung, vor dem Mord von der Mordserie des NSU nichts mitbekommen zu haben, ist inzwischen wiederlegt, der Verfassungsschutz hatte den Nachweis bis 2017 verheimlicht.[2] Seine Behauptung von dem Mord nichts mitbekommen zu haben, wurde inzwischen derart deutlich widerlegt, dass selbst der jetzige BfV-Chef diese Lüge öffentlich nicht mehr stützt. Temme schweigt bis heute, weshalb er beim Mord anwesend war. Die Aufarbeitung verhinderten neben dem Verfassungsschutz auch aktiv die Regierungsparteien CDU und B90/Grüne in Hessen, die die parlamentarische Aufklärung der umfassendsten rechten Terrorserie seit 1945 hinter parteitaktische Interessen zurückstellten.

„Wir haben es hier doch nur mit einem Tötungsdelikt zu tun“ – Die Verhinderung der Aufklärung von Halits Tod durch den Verfassungsschutz

Temme wurde zunächst vom Dienst suspendiert. Er konnte nach Ablauf der Suspendierungsfrist alleine deshalb nicht zu seinem Arbeitsplatz zurückkehren, weil der Fall öffentlich bekannt geworden war. Hessisches Innenministerium und LfV beschlossen daher, dass Temme nicht zurückkehren könne und beurlaubten diesen während eines Disziplinarverfahrens bei vollen Bezügen und unter Missachtung all seiner bis dahin bekannten Dienstvergehen.[3]

Anschließend verhinderte das LfV und das hessische Innenministerium eine Vernehmung der V-Personen Temmes, darunter der Neonazi Benjamin Gärtner, angeblich um die Arbeit des Geheimdienstes im Bereich Islamismus nicht zu gefährden. Wie wenig ernst der Verfassungsschutz diese Terrorserie nahm, zeigt sich bei der Äußerung von LfV-Mitarbeiter*innen gegenüber der Polizei, man habe „es hier doch nur mit einem Tötungsdelikt zu tun“. Bei dieser Relativierung erhielt das LfV Unterstützung vom Bundesamt. Der Kontext einer seit Jahren andauernden Mordserie wurde durch Geheimdienst und Innenministerium ausgeblendet, Temmes Anwesenheit bei einem Mord heruntergespielt und die Aufklärung sowohl gegenüber der Polizei als auch gegenüber den Untersuchungsausschüssen verhindert. Als 2012 das BKA im Rahmen der NSU-Ermittlungen Benjamin Gärtner befragen wollte, verhinderte das LfV mit Hilfe eines korrupten Anwaltes, dass Gärtner aussagen konnte. Diesen Anwalt musste das LfV Gärtner geradezu aufzwingen.[4] Mit der Behauptung des Verfassungsschutzes, die Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat gefährde dessen Arbeit im Bereich „Islamismus“ und Terroranschläge seien dann wahrscheinlich, verhinderte er die Aufklärung einer rassistischen Terrorserie.

Wie nahe sich der Rassismus der nationalsozialistischen Täter und der Rassismus der Sicherheitsbehörden kommen können, zeigt eine der vielen Grausamkeiten, die Polizei und Verfassungsschutz nach dem Mord für die Familie parat hatten. Das Landesamt behauptete gegenüber der Polizei, İsmail Yozgat werde beim Freitagsgebet in der Moschee zur Blutrache gegen Temme angestachelt. Diese Aufforderung gab es allein in der rassistischen Fantasie des Geheimdienstes, İsmail Yozgat nahm nie an Freitagsgebeten in der fraglichen Moschee teil. Er wurde trotzdem Opfer zahlreicher Überwachungsmaßnahmen, vom Vater eines ermordeten Sohnes zum Täter gemacht. Die Polizei teilte den Rassismus des Geheimdienstes und sah eine Gefährdung Temmes in den „ethnisch-kulturellen Hintergründe der Opferfamilien“[5].

Bevor die Aufklärung und Aufarbeitung einer Mordserie also ein schlechtes Licht auf den Geheimdienst werfen konnten, verhinderten Innenministerium und Geheimdienst die Aufklärung und machten die Hinterbliebenen noch zu Täter*innen. Wenn wir schreiben, dass der Verfassungsschutz über Leichen geht, bedeutet das nicht nur seine Verstrickung in den Mord an Halit Yozgat. Wir meinen alle auch Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides und Mehmet Kubaşık und auch Michèle Kiesewetter. Wir meinen alle Opfer der Täter, die sich aus dem vom Verfassungsschutz geförderten und geformten Milieu lösen, um zu töten.

[1] Abschlussbericht des Hessischen Untersuchungsausschusses, 358f.

[2] Abschlussbericht des zweiten NSU-UA des Bundestages, 880.

[3] Abschlussbericht Hessen, 434f.

[4] Sondervotum die LINKE Hessen, 196ff.

[5] Sondervotum die LINKE Hessen, 57.

Der Inlandsgeheimdienst leugnet, relativiert und fördert sogar Teilweise rechten Terror (siehe “Wir finanzieren unsere Neonaziszene“). Wenn aber Skandale den Geheimdienst in die Öffentlichkeit zwingen, vertuscht er auch. Wir stellen hier dar, wie der „Verfassungsschutz“ Ermittlungen behinderte und Beweise vernichtete. Weil diese Vertuschung auch die Rolle des Geheimdienstes in der Ermöglichung rechten Terrors verschleiert, stellen wir auch die Leugnung und bis heute anhaltende Relativierung des rechten Terrors durch die Sicherheitsbehörden dar. Fangen wir mit der Vertuschung an.

Vertuschungen

Genau eine Woche nach der Selbstenttarnung der als NSU-Trio bekannten TerroristInnen wurden im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) alle Akten geschreddert, in denen ein Bezug zum NSU festgestellt wurde. Die „Operation Rennsteig“ war eine klassische Maßnahme zur Anwerbung von Vertrauenspersonen (VP) beim sogenannten „Thüringer Heimatschutz“ (THS). Das heißt, der Geheimdienst wollte, weil er die Gruppe für Relevant hielt, mehr Informationen beschaffen und griff dabei auf sein Mittel der Wahl zurück: Überzeugte Neonazis einfach bezahlen.

Als der Generalbundesanwalt am 11. November 2011 Ermittlungen wegen Gründung einer rechtsgerichteten terroristischen Vereinigung einleitete, ließ der BfV-Mitarbeiter mit dem Decknamen „Lothar Lingen“ noch am selben Tag mehrere Akten schreddern, die zur Operation Rennsteig gehörten, also mit dem THS befasst waren. Davon war eine Akte eine Werbungsakte und fünf Akten V-Mann-Akten. Das BfV hat während der Aktion “Rennsteig“ acht VP angeworben, davon sechs VP mit dem Ziel THS, die von 1999-2003 je ein bis zwei Jahre tätig wahren. VM Tinte wurde 2004 an das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Thüringen übergeben. Zwei weitere V-Leute wurden dem LfV 2000 und 2003 übergeben.[1] Zwischen dem 04.11.2011 und dem 04.07.2012 (Vernichtungsstopp) wurden im BfV 310 Akten aus dem Bereich “rechts” vernichtet. Dazu gehören nicht nur Akten aus der „Operation Rennsteig“, sondern hunderte weitere Akten, die Informationen zu der Verflechtung zwischen Geheimdienst und rechtsterroristischem Milieu über V-Leute Aufschluss hätten geben können. Zum Zeitpunkt des „Vernichtungsstopps“ für Akten aus dem Bereich „rechts“ war der Schaden bereits angerichtet. Erst Ende Juni 2012, also über ein halbes Jahr später, gab der Geheimdienst seine Vertuschungsaktion zu. Bis dahin hatte er behauptet, alle relevanten Akten zum NSU seien schon lange vor Bekanntwerden des NSU und seiner Taten vernichtet worden.[2]

Der damalige Präsident des BfV, Fromm, begründete seinen Rücktritt damals mit dem Bekanntwerden der Vertuschung, relativierte diese aber: Der Mitarbeiter „Lingen“ habe nur Fehler vertuschen wollen, falls aus diesen Akten ersichtlich würde, dass der VS vom NSU hätte wissen müssen. Etwaige Verflechtungen des Geheimdienstes mit dem NSU-Netzwerks über von ihnen bezahlte Neonazis können so bis heute zwar über starke Indizien vermutet, aber nicht nachgewiesen werden. Die Behauptung eines (un)erhlichen Fehlers setzte sich durch.

Dass Aktenvernichtung und Vertuschungen zum Alltag des Geheimdienstes gehören, verdeutlichen die vernichteten Berichte zum seit 1996 vom Geheimdienst bezahlten V-Mann Marcel D., Kassenwart des Terrornetzwerkes „Blood & Honor“ in Deutschland und Chef der Sektion Thüringen. Die Berichte zu etwa 160 Treffen mit dem Geheimdienst wurden gleich nach seiner Abschaltung im Jahr 2000, vernichtet. Auch wurde der Neonazi wohl vom Geheimdienst vor polizeilichen Durchsuchungen gewarnt[3]. Solche Vertuschungsaktionen sind in der Affäre nach der Selbstenttarnung 2011 nicht mitgezählt. Wer diese Vernichtung angeordnet hat und weshalb die Berichte vernichtet wurden, verschwieg der Geheimdienst auch den Parlamenten.

Der Geheimdienst vertuscht auch durch weitere Methoden. So fanden etwa Observationsberichte zum sogenannten NSU-Trio teilweise keinen Eingang in die Akten des BfV, ein Mitarbeiter sagte vor dem 2. NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages: „Es gab auch noch drei weitere Observationen, von denen sich allerdings in unserer Akte kein Niederschlag fand. Das ist ein bisschen eigenartig. […] Ich habe hier auch die Observation nicht angeordnet. Wenn Sie jetzt wissen wollen: ‚Wie kann das denn sein?‘, dann tue ich mich auch ein bisschen schwer.“[4]

Die unmittelbare Motivation zur Vertuschung durch Schreddern oder gleich gar nicht dokumentieren ist offensichtlich. Das institutionelle Interesse des Geheimdienstes, weiter als ein seriöser Hüter der Demokratie zu gelten und das individuelle Interesse seiner Mitarbeiter*innen, keine beruflichen Konsequenzen ertragen zu müssen, gehen hier Hand in Hand. Ein Teil des institutionellen Interesses ist es aber auch, die Rolle des „Verfassungsschutzes“ in der rechten Szene zu verschleiern. Denn dieser finanziert nicht nur über V-Leute die rechte Szene mit und schützt sie vor Ermittlungen, der Geheimdienst erleichtert rechten Terror auch durch seine Leugnung und Relativierung.

Leugnung und Relativierung rechten Terrors durch den Verfassungsschutz

Rechter Terror in Deutschland hat Kontinuitäten bis in die Weimarer Republik. Nach dem Sieg der Alliierten über Deutschland bildete die SS sogenannte „Werwolfkommandos“, die Anschläge begehen sollten. Seitdem haben Rechte in Deutschland immer wieder Terrortaten begangen: Ob als klandestine, streng organisierte Gruppen, lose Netzwerke, Söldner in Kriegen oder zuletzt auch aus rechten Kommunikationsräumen heraus tötende Gesinnungstäter. Der rechte Terror während der Nachkriegszeit richtete sich inmitten des sogenannten kalten Kriegs vor allem gegen politische Gegner*innen. Mit der Wende erhöhte sich die internationale Vernetzung der bewaffneten Rechten und ihr Fokus auf die Migrationsgesellschaft nahm zu: Die meisten Opfer rechten Terrors werden heute aus rassistischen Motiven angegriffen. Auch antisemitischer und misogyner Terror ist Teil rechter Gewaltmotivation und -strategien. In den 1970ern und 1980 gab es massive Gewalttaten und terroristische Anschläge, die nicht als rechter Terror akzeptiert wurden. Polizei und Geheimdienst taten alles dafür, den Mythos der unpolitischen Einzeltäter durchzusetzen. Als ein Neonazi der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ 1980 einen Anschlag auf das Oktoberfest in München verübte, 13 Menschen ermordete und 221 verletzte, meinten die Behörden, er habe den Anschlag „allein und aus persönlichen Motiven“ begangen.

1998 tauchte das sog. NSU-Trio unter, soweit man den unbehelligten Aufenthalt in Sachsen wirklich „Untergrund“ nennen will. Obwohl rechter Terror seit den 1980ern nie verschwunden war, leugnete der Geheimdienst wissentlich die Gefahr dieses Terrors. In einem Papier von 1998 schrieb das BfV, auch unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das gerade untergetauchte Trio:

„Derzeit gibt es in Deutschland keine rechtsterroristischen Organisationen oder Strukturen. Zum einen mangelt es hierfür an geeigneten Führungspersonen, logistischen Voraussetzungen und finanziellen Mitteln. Zum anderen fehlt die Unterstützer-Szene, die für einen nachhaltigen, aus der Illegalität heraus geführten bewaffneten Kampf unabdingbar ist. Auch eine Strategiedebatte zur gewaltsamen Systemüberwindung findet im rechtsextremistischen Lager – wenn überhaupt – nur in geringem Umfang statt, so existiert keine ausformulierte Theorie, die Gewalttaten zur Durchsetzung politischer Ziele fordert und zugleich legitimiert“[5]

Diese Einschätzung ist nicht nur in allen Einzelheiten falsch, der Verfassungsschutz wusste es auch besser, oder hätte es besser wissen müssen: Die terroristischen Strukturen Blood & Honor und Combat 18, beide von V-Leuten durchsetzt und beide auffällig mit Theoriepapieren und Handlungsanleitung zu rechtem Terrorismus, waren dem VS bekannt. Es gab also, den Behörden bekannt, eine Unterstützungsszene, eine sehr konkrete Debatte, nicht um das Ob, sondern das Wie rechten Terrors und es gab entgegen der Angaben des VS nach 1998 eben auch klare Anzeichen für das Bestehen einer terroristischen Struktur: Nämlich untergetauchte Nazis, vermehrte regionale Banküberfälle und ein Umfeld, das seine Solidarität teilweise sehr explizit ausdrückte. In der zitierten Einschätzung bezieht sich der Geheimdienst explizit auf das untergetauchte Trio, um die von ihm ausgehende Gefahr zu leugnen. Aus TKÜ-Maßnahmen und durch Quellenmeldungen wusste das BfV und andere Behörden zweifelsfrei von dem Trio, begangenen Überfällen und der Absicht (weiterer) Bewaffnung. Nach der Selbstenttarnung 2011 logen die Behörden auch darüber. (Abschlussbericht 2. NSU-UA, 1207–1208)

„Wir vernichten Beweise“

Die Rolle des „Verfassungsschutz“ im rechten Terror bedeutet ist Leugnen, Relativieren und weiterhin Fördern [Hyperlink VP-Text]. Auch die Floskel des „Rechtsextremismus als größte Bedrohung in Deutschland“ ändert daran nichts: Der Geheimdienst verharmlost weiter gefährliche Strukturen, wie beispielsweise die Hammerskins, deren Mitglieder in den USA bereits mehrere Anschläge und Morde begangen haben und hier als Gruppe im „Musikgeschäft“ verharmlost wird. Wir riechen Spitzel. Auch die Stigmatisierung von Betroffenen und solidarischen Organisierungen ist weiter ein zentrales Geschäft des „Verfassungsschutzes“. Im Kampf gegen rechten Terror dürfen keine Beweise vernichtet und keine Gefahr geleugnet, geschweige denn gefördert werden. Rechten Terror bekämpfen, Verfassungsschutz auflösen.

[1]Abschlussbericht des ersten PUA Bundestag (2013): 757.

[2]Ebd. 743

[3]Ebd. 154f.

[4]Abschlussbericht des 2. NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages (2017): 302.

[5] Abschlussbericht 1. NSU-Untersuchungsausschuss (2013): 226.

Wir finanzieren unsere Neonaziszene: Wie der Verfassungsschutz beim organisierten Rechtsterrorismus mit anpackt

Allein Tino Brand bekam vom Verfassungsschutz 200.000 DM, die er auch in den Aufbau rechter Strukturen anlegte. Aber er ist nur einer von über 30 V-Personen im Umfeld des NSU und nur einer von fünf V-Personen auf der Kontaktliste der als „NSU-Trio“ bekannten MörderInnen: Neben Brand, Chef des „Thüringer Heimatschutzes“ aus dem sich der Kern des NSU bildete, bezahlte das LfV Thüringen bis 2001 auch den Thüringischen Chef von „Blood & Honor“, der maßgeblichen unterstützenden Struktur des NSU. Das LfV Bayern bezahlte über ein Jahrzehnt lang den Neonazi Kai Dalek[1], das Bundesamt 1994 bis 2003 und 2005 bis 2012 Thomas Richter (Deckname „Corelli“)[2] und das Landeskriminalamt Berlin bezahlt den bei Blood & Honor aktiven Neonazi und Freund von Mundlos und Zschäpe, Thomas Starke von 2000-2011. Die Systematik dieser V-Leute werden im Abschlussbericht des 2. NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages entsprechend dargestellt:

„Das BfV hat mit den V-Leuten Thomas R. alias „Corelli“, Mirko H. alias „Strontium“, M. alias „Primus“, Michael S. alias „Tarif“ systematisch sehr junge, vorbestrafte, ökonomisch von den Zahlungen des BfV abhängige Führungsaktivisten in militanten Neonaziorganisationen und -netzwerken wie u. a. Blood & Honour, Combat 18 und Hammerskins als V-Personen verpflichtet, die als bezahlte de facto Vollzeitaktivisten mit Publikationen und/oder entsprechenden Internetauftritten ihren Einfluss, ihre Position und ihre Reichweite innerhalb der Neonaziszene ausbauten und an denen sich andere militante Neonazis orientierten. Mithilfe dieser Vollzeitaktivisten und des Prinzips „Quellenschutz vor Strafverfolgung“ entstanden extrem rechte Erlebniswelten und neonazistische Strukturen, die auch nach der Enttarnung der V-Leute weiterbestehen.“ (1197)

Das Prinzip „Quellenschutz statt Strafverfolgung“ bedeutet, dass der Verfassungsschutz nicht nur Informationen nicht weitergibt, die er eigentlich weitergeben sollte[3], sondern auch seine „Quellen“, also bezahlte Neonazispitzel, für Maßnahmen der Polizei warnt[4] oder vor Gericht für sie interveniert[5]. Das Geld dieser V-Männer und der ihnen gewährte Schutz halfen maßgeblich dabei, die militante, terroristische Szene in Deutschland auf- und auszubauen. Ein Teil des Geldes des Verfassungsschutzes landete auch direkt beim NSU[6]. Ein weiterer Schutzeffekt ist das Interesse des Verfassungsschutzes, nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf die Neonazistrukuren zu lenken, die er erfolgreich unterwandert. Regelmäßig werden bestimmte rechte Strukturen von Verboten verschont, obwohl quasi identische Strukturen, in denen keine V-Personen sitzen, ein Verbot trifft. Auffällig war in diesem Zusammenhang, wie große Strukturen wie Blood & Honor bei einem Verbot nur relativ wenigen Personen zugeschrieben werden, dass nach der Selbstenttarnung des NSU nicht auch „Combat 18“ als „bewaffneter Arm“ von Blood & Honor verboten wurde[7] und dass das Netzwerk der „Hammerskins“ bis heute als eine Musikgeschäftgruppe verharmlost wird.

VP-System: Terrorismus gestalten statt bekämpfen

Der nach der Selbstenttarnung des NSU-Trios als Reformer eingesetzte und inzwischen vor allem als rechter Aktivist bekannte Hans-Georg Maaßen behauptete als neuer Verfassungsschutzchef, er „wäre froh, wenn ich Ihnen sagen könnte: Wir brauchen keine V-Personen. Leider ist das nicht so.“ Die rechte Lüge der Notwendigkeit des VP-Systems geht so: Wenn wir keine Neonazis für Informationen bezahlen, können wir keine Gefahren für die Demokratie abwehren. Durch die Aufarbeitung des NSU-Komplexes durch die Überlebenden und Hinterbliebenen, Aktivist*innen, Journalist*innen, auch mithilfe von Informationen aus den Untersuchungsausschüssen und dem Verfahren, wissen wir aber, dass der Staat die Gefahr rechter Gewalt nicht bekämpft, sondern sich mit ihr verbindet, um sie zu gestalten. Das bedeutet nicht, dass in einem kleinen Zimmer ein paar Leute beschlossen haben, wie rechte Gewalt gelenkt werden soll. Die Verbindung, die der Staat eingeht, indem er die Gewalttäter*innen und Terrorist*innen selbst in seinen Dienst stellt, ist das Ergebnis einer Phantasievorstellung von Kontrolle.

Das Konzept des Geheimdienstes ist es, einige Akteure der Naziszene zu bezahlen, um so an Informationen zu kommen. Diese stark gefilterten Informationen werden mit Kontrolle gleichgesetzt. Solange der Verfassungsschutz seine Spitzel bezahlt, sie „steuert“, ihnen also Anweisungen gibt, wo, mit wem und auf welche Art sie sich einbringen sollen, macht er mehr, als nur Informationen abzugreifen. Die stark durch die VP gefilterten Informationen aus dieser Quelle sind für den Staat ein Blick in das Obskure, in die gefährliche Kehrseite des eigenen Nationalismus. Weil eben die Sicherheitsbehörden, wie auch die weiße Dominanzgesellschaft, die Gemeinsamkeiten des Rassismus der Täter*innen zum eigenen Rassismus, der terroristischen Gewalt zur institutionalisierten Gewalt, verleugnet, scheint die extreme Rechte im postfaschistischen Deutschland auch als etwas Mythisches . Das ist auch eine Erklärung für die Obsession vieler Medien für die Kindheit/Psyche/Frisur/Kleidung/ Bildungsweg der Täter*innen. Und für die Selbstwahrnehmung als „Sozialarbeiter“[8] der VP-Führer*innen.

Die Strategie, mit der der Geheimdienst die rechte Szene mit Spitzeln durchdringen will, basiert auf eigenen Vorstellungen dessen, was es ausmacht, Rechts zu sein und was der Geheimdienst unter „Rechtsextremismus“ in ein brachialsimplizistisches Schema einfügt. Der Geheimdienst gestaltet die rechte Szene durch die Verteilung von Geld, Schutz vor Repression und deren aktive Steuerung mit, in dem Glauben, dort einfach Informationen abzuschöpfen. Auch die Anwerbung von V-Leuten unter denjenigen, die aus der Szene aussteigen wollen, dürfte eine szenestabilisierende Wirkung haben. Weil der Staat seine Mittel so einsetzt, wie er es für am Passendsten hält, diese Mittel aber eine reale und beachtliche Auswirkung haben, wird die Szene beeinflusst und teilweise erst befähigt. Die V-Personen wissen um den Schutz, der ihnen gestattet wird und nutzten diesen, um Strukturen voranzubringen. Die vom Staat antizipierte Gewalt der Neonazis wird durch V-Personen nicht verhindert, der Staat verbessert die Bedingungen für die Möglichkeit dieser Gewalt und mehr, wird selbst Teil dieser Gewalt, deren konkrete Ausformung er mitbeeinflusst. Das klandestine Interesse jedes Geheimdienstes bringt es gleichzeitig mit sich, der Öffentlichkeit ein ungefähres Zerrbild der rechten Szene zu präsentieren, es gegen wissenschaftliche und aktivistische Erkenntnisse durchzusetzen, und Aufklärung zu der Szene und zu den eigenen Verstrickungen zu verhindern. Die Anwesenheit des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme beim NSU-Mord an Halit Yozgat und die anschließende Verweigerung der Aufklärung durch Geheimdienst, Innenministerium und Regierungsfraktionen verdeutlicht das: „Wir gehen über Leichen“.

[1] https://www.nsu-watch.info/2015/02/v-mann-portraet-kai-dalek/

[2] Die Trennung schien dem Verfassungsschutz schwer: Noch Jahre nach der Selbstenttarnung tauchten vorher verschwiegene SIM-Karten des V-Mannes beim VS auf. Dazu im Abschlussbericht des 2. NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages (2017): 59.

[3] Beispielsweise, dass das untergetauchte Trio Waffen besorge: 1. NSU-UA (2013): 856.

[4] So auch Ralf Marschner, den Spitzel des Bundesamtes, der den NSU unterstützte: 2. NSU-UA (2017): 470. Der VP-Füher bestreitet das, er hielt noch 9 Jahre nach „Abschaltung“ als Quelle freundschaftlichen Kontakt zu Marschner. Für Spitzel Richter gab es diesen Service auch: S. 510.

[5] Wie für den NSU-Unterstützer und Neonazikader Carsten Szczepanski: https://brandenburg.nsu-watch.info/dossier-carsten-szczepanski/

[6] https://www.spiegel.de/panorama/justiz/v-mann-tino-brandt-verfassungsschutz-zahlte-geld-an-neonazi-terrortrio-a-822595.html

[7] https://exif-recherche.org/?p=6351

[8] Bundestag NSU-UA 2017:501

Der deutsche Verfassungsschutz ist ein Kind des kalten Krieges und da die Westallierten nach 1945 ein größeres Interesse daran hatten Kommunist:innen auszuspähen, als alte Nazis zu bestrafen, wurde der Grundsatz keine NS-Funktionäre zu beschäftigen schon in den 1950er Jahren größtenteils über Bord geworfen.[1]

Doch es sind nicht nur die braunen Kinderschuhe, die den Verfassungsschutz zu der Behörde machen, die er heute ist, sondern auch die Extremismusdoktrin. Ihr zu Grunde liegt die Vorstellung, dass Extremismus der Gegenbegriff zu Demokratie sei. Und was definiert der Verfassungsschutz als Demokratie? Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 1952 ist Demokratie die freiheitlich demokratische Grundordnung (fdGO) Deutschlands – und diese wiederrum besteht laut dem Gericht im Kern aus den staatlichen Institutionen und Verfahrensweisen. Im Klartext: lehnt ein Mensch oder eine Gruppe eine staatliche Institution, wie etwa die Polizei oder den Knast, ab, so gilt er oder sie als Extremist:in.

Andere Vorstellungen von Demokratie lässt der Verfassungsschutz nicht gelten und ignoriert, dass Demokratie ein umstrittener und vielfältiger Begriff ist. Der Wunsch nach mehr Demokratie – sollte er zum Bespiel der Abschaffung eines repräsentativen Parlaments und die Einführung einer Rätedemokratie fordern, wird so als extremistisch verfolgt.

Aufbauend auf dieser antikommunistischen Vorstellung von Demokratie folgt der Verfassungsschutz der sogenannten Extremismustheorie. Sie wird auch Hufeisenmodell genannt. So vereinfachend wie die Vorstellung, dass die Bundesrepublik Deutschland die einzig mögliche Demokratie darstellt, ist auch das Hufeisenmodell. Es geht davon aus, dass es eine demokratische Mitte gäbe, sie links und rechts Ränder habe, die sich, umso extremer sie werden, wieder annähern. Aufgezeichnet ergibt dieses Schema ein Hufeisen, daher der Name des Modells. Dieses Modell ist vor allem aus zwei Gründen gefährlich:

Es setzt Links- und Rechtsextremismus gleich und verschleiert so Gefahren.

Rechtsextremistische Ideologien wollen Menschen sortieren, abschieben und in letzter Konsequenz töten. Als logische Konsequenz dieser Ideologie bedrohen Rechte Menschenleben – ob im Parlament oder auf der Straße. Linke Ideologien haben keinen vergleichbaren Vernichtungswunsch, sie wenden sich, im Gegenteil, gegen jede Ausgrenzung.[2] Das Hufeisen setzt die Gewalt von Rechten mit der Gegengewalt von Menschen, die sich antifaschistisch eben diesen Rechten in den Weg stellen, gleich. Und wenn zum Beispiel bei den Eliteeinheiten der Bundeswehr wie dem KSK von einem Extremismusproblem gesprochen wird, verschleiert dies, dass es sich eigentlich um ein Problem mit NS-Verharmlosung, Rassismus und organisierten Neonnazis in den eigenen Reihen geht.

Rassismus, Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit sind kein Phänomen der Ränder

Das Hufeisenmodell sieht die Gefahren für die Demokratie ausschließlich an den Rändern der Gesellschaft. Doch aus unserem Alltag und der Sozialforschung wissen wir: rassistisch sind nicht nur Rechtsextremist:innen. Im Gegenteil. Menschenfeindliche Haltungen sind tief in unserer Gesellschaft verwurzelt. Die „Mitte-Studien“ fragen seit Jahren die Zustimmung der sogenannten bürgerlichen Mitte zu menschenfeindlichen Parolen ab und stellen fest, dass 2021 zum Beispiel 16,7% abwertenden Aussagen über Sinti_zee und Rom_nja zustimmten.[3] Noch mehr Menschen, nämlich fast die Hälfte aller Befragten, insgesamt 40,4% stimmten der Abwertung asylsuchender Menschen zu.[4] Die Gefahr des Hufeisenmodels liegt also auch eben darin, dass es ihm gar nicht darum geht Menschen vor Rassismus oder Antiziganismus zu schützen, sondern darum den Staat und seine Institutionen, die der Verfassungsschutz als die einzigmögliche Demokratie gekürt hat, zu schützen.

Neben den rechten Verwicklungen ist es also schon der Grundsatz, auf dem der Verfassungsschutz aufgebaut ist, falsch. Wir fordern daher: Verfassungsschutz auflösen.

[1] Ein Forschungsprojekt der Ruhr-Uni Bochum beschäftigt sich seit Jahren mit den braunen Wurzeln des Verfassungsschutzes. Hier gibt es einen Artikel zu dem Projekt: https://www.ruhr-uni-bochum.de/geschichte-bfv/pdf/2014_rubin_verfassungsschutz.pdf

[2] Natürlich gab es historisch trotzdem sich selber als links bezeichnende Gruppen und Menschen, die andere Menschen verfolgten und töteten, wie es zum Beispiel im Stalinismus unter Stalin geschah. Doch anders als bei rechtsextremistischen Ideologien ist dieses Töten nicht der Kern der Ideologie, sondern ihre Pervertierung. Anders gesagt: Kommunismus, Anarchismus und andere linke Ideen beinhalten nicht die Verfolgung von Menschen, die Idee eines rassisch reinen Volkes hingegen gibt es nicht ohne rassistische Verfolgung.

[3] https://www.fes.de/referat-demokratie-gesellschaft-und-innovation/gegen-rechtsextremismus/mitte-studie-2021 1

[4] Ebenda